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Roman Ehrlich I Videotime 

S. Fischer Verlag
368 Seiten
26 Euro
ISBN 978-3-10-397197-2

von Lothar Schneider

Eine Kindheit in der Provinz im ausgehenden Jahrtausend; eine Jugend vor einem Fernseher, in dem meist Videofilme liefen, die der Vater als Raubkopie besaß; der Besuch des Erwachsenen, der die Kleinstadt längst hinter sich gelassen hat, bei seinem Vater, der geblieben war; ein Umweg, der Vergangenheit und Gegenwart überblendet und Filmbilder in Erinnerung ruft, die das Erleben des Kindes prägten und jetzt dem Erwachsenen verstehbar werden. Mühelos wechselt Roman Ehrlich zwischen den drei Ebenen, legt Bilder übereinander, die schließlich alle auf die Frage weisen, was an unserem Leben uns eigen ist und was uns durch Bilder, die unsere Wahrnehmung präformierten, zugeschrieben wurde.

Mit Videotime ist Roman Ehrlich ein großer Roman gelungen: Gleichaltrige werden das Buch mit eigenen Erinnerungen besiedeln, Jüngere werden sich einfinden in die Atmosphäre einer Zeit, deren Technik nur noch als Angebotsvariante auf second-hand-Portalen überlebt hat, deren Gebrauch einst aber eine Aura intensiven Erlebens produzierte, die heute unter den Schuttgebirgen virtueller Bilder verloren liegt. (Haben Sie selbst schon einmal die Filmsequenzen erinnert, die Ihnen in der Kindheit wichtig waren? Haben Sie ihr damaliges Erlebnis nachvollzogen – nicht es ‚benannt‘ –, um zu spüren, was Sie damals gespürt haben? Können Sie spüren, wer sie damals waren und wie sie jetzt dazu stehen, ohne darüber zu urteilen?)

Die Mehrzahl der Deutschen ist in Klein- und Mittelstädten aufgewachsen, die meisten sprechen ungern darüber. Und wenn, dann klingt dies distanziert und/oder sentimental, jedoch selten atmosphärisch dicht und authentisch. Ehrlich kommt aus Neuburg an der Donau, einer Kreisstadt mit etwas über 25.000 Einwohner, aber der Roman erwähnt dies nicht, sondern beschreibt Raumzeitkonstellationen, die typisch sind für das Aufwachsen in solchen Orten zu jener Zeit. Namensgebend ist eine Videothek, also eine jener Leihbibliotheken, die in der Zeit vor dem Streaming zunächst mit Videocassetten, dann mit DVDs die Versorgung der Region mit Filmen sicherstellten und nach dem Verlust dieser Funktion fast völlig verschwunden sind. Im Roman, der Stills aus Filmen an die Stelle von Kapitelüberschriften setzt, wird eine Reihe von Filmen szenisch referiert und motivisch im Text mitgeführt, was ihre ‚Bildungsfunktion‘ zusätzlich unterstreicht. Da es sich dabei ausschließlich um bedeutende, häufig avantgardistische Genrefilme handelt, kann man dem Autor zwar den Vorwurf machen, der Vater des Erzählers hätte ein für seinen sozialen Status sehr ungewöhnlicher Connaisseur sein müssen; es hat aber den Vorteil, dass man nicht nur mit seltenen Filmen Bekanntschaft schließt, sondern das Zeitkolorit und den Habitus des späten 20. Jahrhunderts eindrücklich vor Augen geführt bekommt: den Wechsel von der Libertinage der Siebziger zur bedrohten, körperfetischisierten Hyper-Männlichkeit der Achtziger und Neunziger, die häufig an der Grenze zur Parodie stand und ebenso häufig darüber hinaus lag. Der Vater ist diesem Rollenmodell verhaftet und will seinen älteren Sohn zum Tennisprofi ausbilden – auch dies ist typisch für eine Zeit, in der der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker Boris Becker als Vorbild für junge Männer pries. Mittels einer Verletzung gelingt es dem Jungen jedoch, sich den Wünschen des Vaters zu entziehen, was seinem eher dicklichen jüngeren Bruder, dem Erzähler, anscheinend problemloser gelang. Denn er kann zurückkehren und den Vater besuchen, der in der Wohnung und, so vermutet man, in der Zeit vereinsamt zurückgeblieben war, nachdem sich die Familie aufgelöst hatte. Über die Begegnung des Vaters wird nichts mehr berichtet, erzählt wird die Begegnung mit dem Ort und der Zeit, werden Begegnungen mit „magischen Orten“, wie sie in Neuburg liegen und fast überall und in jedem.      

 


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