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Jeanne Diesteldorf|(K)eine Mutter  

Kiepenheuer & Witsch
240 Seiten
14 Euro
ISBN 978-3-462-00210-2

von Felicia Grimmell

»Manchmal ist man die beste Mutter, indem man keine wird.«

(Diesteldorf 2021: 39)

Obwohl der Diskurs über Abtreibung bereits vor über 50 Jahren durch den bekannten Stern-Artikel Wir haben abgetrieben!,in dem sich über 300 Frauen zu ihrer Abtreibung bekannten, in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt wurde, ist es dennoch ein Gesellschaftsthema, über das bis heute nicht offen und ohne Werturteile gesprochen wird. Seit Jahren plädieren Feminist*innen dafür, dass die Paragraphen 218 und 219a aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden. Paragraph 219a - das Werbeverbot für Abtreibungen - wurde im Juli 2022 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Das bedeutet, dass Ärzt*innen beispielsweise auf ihrer Homepage über Abtreibungen informieren dürfen. Paragraph 218 bleibt allerdings weiterhin unangetastet. Dieser stellt es für alle Beteiligten unter Strafe, eine Schwangerschaft abzubrechen, was mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden kann. Durch einen Beratungstermin bei einer genehmigten Stelle, der mindestens drei Tage vor dem Abbruch erfolgen muss, bleibt die Abtreibung jedoch straffrei und wird nicht geahndet.

Jeanne Diesteldorf gibt in ihrem Buch (K)eine Mutter zwölf Frauen eine Plattform, um ihre persönlichen und individuellen Erfahrungen mit ihrer Abtreibung zu teilen, um anderen Frauen in einer ähnlichen Situation zu helfen. Viele Frauen müssen sich im Laufe ihres Lebens mit einer ungewollten Schwangerschaft auseinandersetzen und wie das Buch zeigt, bringt jede Betroffene ihre eigene Geschichte mit.

Die Autorin selbst hält sich während der Erzählungen sehr bedeckt. Sie steht hier nicht im Mittelpunkt. Sie ist da, um zu beobachten, die Geschichten der Frauen aufzuschreiben und an die Öffentlichkeit zu bringen. Hauptprotagonisten sind die zwölf Frauen. Jede bekommt ihr eigenes Kapitel und erzählt ihre Geschichte auf ihre ganz eigene Weise. Diesteldorf gelingt es besonders, die unterschiedlichen Emotionen und Gefühle der Frauen einzufangen. Besonders das Gefühl von Unsicherheit begleitet viele Frauen. Nicht nur darüber, ob sie das Kind bekommen möchten oder können, sondern auch über die Unsicherheit, wie sie vorgehen sollen und an welche Stellen sie sich hinwenden können. Oft werden sie in ihrer eigenen Frauenarztpraxis sehr kurz abgefertigt, mit dem Hinweis, dass man dort keine Schwangerschaftsabbrüche vornehme. Es gibt keinen Rat, an welche Praxis man sich stattdessen wenden könnte und auch die Beratungsstellen können oft keine Auskunft darüber geben, wer in der Umgebung Abtreibungen vornimmt. Dieser Mangel an Informationen ist zutiefst belastend für die betroffenen Frauen.

Durch die Abschaffung von Paragraph 219a ist es nun um einiges einfacher, an Informationen zu gelangen. Das bewahrt die Betroffenen allerdings nicht vor unfreundlicher oder herablassender Behandlung. Eine Frau berichtet beispielsweise, dass der Frauenarzt, der die Abtreibung vornehmen sollte, sie fragte, ob sie sich im Klaren darüber sei, einen Mord zu begehen. Andere Frauen schildern Erfahrungen mit unangemessenen Bemerkungen seitens des medizinischen Personals, die dazu beitrugen, dass sie sich herabgewürdigt fühlten und in ihrer aussichtslosen Situation nicht ernst genommen fühlten. Eine solche Behandlung und die Tatsache, dass Männer ihnen immer noch vorschreiben wollen, was Frauen mit ihrem Körper tun sollen, schürt Wut bei den Frauen, die in diesem Buch auch zum Ausdruck gebracht wird.

Andere Frauen sagen, dass sie sehr viel Glück bei ihrem Schwangerschaftsabbruch gehabt haben. Sowohl die Beratung als auch die Suche nach einer Klinik oder Praxis verlief reibungslos, die Behandlung war professionell und frei von moralisierenden Urteilen. Dennoch haben auch sie zu kämpfen. Die Geschichten erzählen von manipulativen Partnern, die sie zur Abtreibung drängen. Eltern, die ihrer Tochter vorschreiben wollen, dass sie das Kind bekommen und ihr Abitur für ein Jahr auf Eis legen solle. Eine andere junge Frau erzählt von einem sexuellen Übergriff bei einem Date. Es ist ein sehr emotionales Thema und Jeanne Diesteldorf stellt sicher, dass das in dem Buch auch deutlich wird.

(K)eine Mutter erzählt die Geschichten von zwölf Frauen von dem Moment an, als sie erfuhren, dass sie schwanger sind, über die Entscheidung für die Abtreibung bis hin zu ihrer aktuellen Lebenslage. Die Geschichten zeigen die unterschiedlichen und vielfältigen Gründe, die Frauen haben können, weshalb sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Die Autorin zeigt mit ihrem Buch, dass es nicht den einen Grund gibt, warum Frauen ihre Schwangerschaft nicht fortsetzen wollen. Jede hat ihren eigenen Grund und jeder einzelne Grund hat seine Berechtigung. Darüber hinaus zeigt das Buch, dass es im Bereich der Geschlechtergerechtigkeit immer noch viel zu tun gibt. Solange Abtreibung immer noch eine Straftat ist, kann man noch nicht von Gleichberechtigung sprechen.


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