Donnerstag, 4.10.18 – 19 Uhr
Bahnhof Gießen
Bahnhofstr. 102
35390 Gießen
Eintritt frei
Moderation: Ludwig Brake (Stadtarchiv)
In Kooperation mit der DB Station&Service AG.
»Bleiben oder gehen, das ist die essentielle Frage. Manche Familien brauchen für diese Entscheidung zehn Jahre. Und als die Entscheidung dann gefallen war, so jedenfalls sagte jemand zu mir, war es, als hätte ich eine Lokomotive losgeschoben«, erinnert sich Historikerin Jeanette van Laak an ein besonders berührendes Interview für ihre Habilitationsschrift. Aus Einrichten im Übergang – Das Aufnahmelager Gießen (1946–1990) las sie am 04. Oktober als erste Veranstaltung des LZG-Winterprogramms 2018. Moderiert wurde die Lesung mit anschließender Diskussion im Gießener Bahnhof von Stadtarchivleiter Ludwig Brake. Doch warum erinnern sich scheinbar so wenige an das Aufnahmelager im Meisenbornweg, das besonders in den 50er Jahren, aber bis zur Wiedervereinigung hinein 4,5 Millionen Geflüchtete aus der sowjetischen Besatzungszone aufnahm und formell registrierte? An jenen Ort, der jedem einzelnen von ihnen den Weg in die Freiheit ebnete? Ein Gast der Lesung berichtet: »Ich habe die Bahnhofsmission nach dem Aufnahmelager gefragt. Manche suchen hier ihre Spuren, aber niemand weiß, wo das Aufnahmelager eigentlich war. Es gibt auch keine Wegweiser mehr.«
Im Gespräch kristallisieren sich verschiedene Punkte heraus, besonders dadurch, dass viele Gäste mit unterschiedlichsten Hintergründen aktiv an der Diskussion beteiligt waren: Einer von ihnen hatte damals im Aufnahmelager gearbeitet. Ein anderer ist Gießener und hatte nur am Rande etwas vom Lager mitbekommen. Der nächste wiederum war Student von außerhalb gewesen, habe aber ziemlich gut über die Registrierungsstelle Bescheid gewusst. Und ein weiterer war selbst mit 15 Jahren im Lager aufgenommen worden, geflüchtet vor dem Diktator Nicolae Ceausescu in Rumänien. »Solche Lager sind immer Parallelorte«, weiß van Laak. Die Stadtbevölkerung habe sich weitestgehend von dem Sammelpunkt ferngehalten, auch weil sich in der Nähe ein »sozialer Brennpunkt« befunden habe, erklärt der urgießener Gast. Aber selbst der geflüchtete Rumäne gibt an: »An das Lager habe ich kaum Erinnerungen. Die beginnen erst wieder mit der Schulzeit, als ich meine ersten Freunde hatte.« Verständlich: Der Schritt, seine alte Heimat zu verlassen und eine lange Zeit in das völlige Unbekannte zu reisen im Verhältnis zu den drei bis vier Tagen, die die Geflüchteten im Aufnahmelager waren, scheinen so verschieden wie Tag und Nacht. Und doch, betont van Laak, war es besonders wichtig für die Ankömmlinge, sich offiziell registrieren zu lassen und den ausgestellten Schein in den Händen zu halten: »Sobald sie die Sowjet-Zone verlassen hatten, waren sie staatenlos. Das heißt, sie hatten keine Rechte mehr. Erst mit dem Registrierungsschein erhielten sie wieder Bürgerrechte. Das kann wohl nur einer nachempfinden, der selbst mal staatenlos war.«
Viele entschieden sich für die freiwillige Registrierung, wirklich notwendig sei es im Alltag nicht gewesen. Aber Zeit fürs Einrichten blieb nicht, der Übergang setzte sich fort: Die meisten reisten weiter, um ein völlig neues Leben zu beginnen, mussten zum Beispiel in Kauf nehmen, von einer Abteilungsleiterin zur Sekretärin degradiert zu werden, Lehrer*innen mussten nochmals Prüfungen ablegen. »Aber die Unterschichtung durch Migration wurde klaglos hingenommen«, erklärt van Laak, »wichtig war, so schnell wie möglich Arbeit, eine Wohnung und eine Schule für die Kinder zu finden.«
Besonders gut hat diese »Übergangs«-Atmosphäre die vom LZG ausgewählte Räumlichkeit widergespiegelt, das sich derzeit in Renovierung befindende Bahnhofsgebäude an Gleis 1, wie Brake hinwies. Hier kamen damals die Millionen Geflüchteten an. Auch der Ausschnitt eines Kurzfilms, konzipiert von Masterstudierenden der Fachjournalistik Geschichte der JLU, bildete einen passenden Einstieg in die Thematik dieses gelungenen Abends.
(Sabrina Stünkel)