Hanser Berlin
192 Seiten
23 Euro
ISBN: 978-3-446-28247-6
Von Tessa Schäfer
Wie geht man damit um, wenn die eigene Familie diametral andere Ansichten vertritt, als man selbst? Dieser Frage stellt sich Dmitrij Kapitelman in seinem dritten Roman Russische Spezialitäten. Wie auch in den beiden Vorgängerwerken Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters (2016) und Eine Formalie in Kiew (2021) erhält die Leserschaft einen Einblick in die Familie Kapitelman, die Anfang der 1990er-Jahre als sogenannte »Kontingentflüchtlinge« aus der Ukraine nach Deutschland kam.
In Leipzig baute sich die Familie einen russischen Spezialitätenladen, das Магазин (dt. »Magasin«), auf. Die einzige Mitarbeiterin Ira ist dabei genauso speziell wie die Eltern, die den Laden führen. In den knapp 30 Jahren des Bestehens gibt es einige Höhen und Tiefen, die das Geschäft überstehen muss. Nicht zuletzt die Corona-Pandemie sowie der Schlaganfall des Vaters führen schließlich zur Geschäftsaufgabe. Wo Ich-Erzähler Dmitrij, Dima, früher nach der Schule ausgeholfen und sich an den Pralinen bedient hat sowie an der kyrillischen Schrift gescheitert ist, muss er nun den grünen Linoleumboden herausreißen.
Ein Riss geht derweil auch durch die Familie Kapitelman, denn die Mutter ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2023 eben jener Propaganda verfallen und vertritt die Meinung, dass Russland ihr Heimatland ja lediglich befreien wolle und die Angriffe auch nur auf militärische Ziele abzielten. Bestätigung findet die Mutter durch das bei ihr stetig flimmernde Fernsehrussland, das ihre Wahrheiten direkt in die heimischen vier Wände und auf ihr Smartphone bringt. Dima hingegen verurteilt den russischen Angriffskrieg und nimmt die Ukraine, deren Bewohner*innen und gute, alte Freunde aus der früheren Heimat in Schutz.
Nach immer wieder aufkommenden Streitigkeiten, denen Dima nicht so begegnen kann, wie er eigentlich gerne möchte, denn es handelt sich ja noch immer um seine Familie, reist er, wie auch schon in Eine Formalie in Kiew, in die Ukraine, in der sich der Krieg mittlerweile in den Alltag eingebettet hat. Dort trifft er seinen Kindheitsfreund, der in der Zwischenzeit Vater geworden ist und auf das Paar, das ihm vor ein paar Jahren so sehr geholfen hat, als Dimas Vater unerwartet einen Schlaganfall auf Reisen in der Ukraine erlitt. Dima bereist seine Geburtsstadt Kiew, aber auch schreckliche Kriegsschauplätze, wie Butscha und Borodjanka.
Während die alten Bekannten alle ursprünglich die russische Muttersprache teilen und Dima bisher auch nicht viel Ukrainisch gelernt hat, sieht das bei den Bewohner*innen der Ukraine anders aus. Diese lernen und sprechen mittlerweile mehrheitlich Ukrainisch. Zwischen tiefgreifenden Fragen, ob Dima sich nicht immer weiter von der Stadt und dem Land seiner Kindheit entfernt, kommt »ein Gedanke in jenem Moment, der sich seitdem wie eine Wahrheit anfühlt: »Heimat ist der Ort, der einem nie egal wird. Kyjiw.« (S. 179).
Obwohl man den Roman wohl in vielen Aspekten als autofiktional beschreiben kann, nimmt sich der Autor Dmitrij Kapitelman auch diverse Freiheiten, die durch fantastische und surreale Elemente deutlich machen, dass Verfasser und Ich-Erzähler dennoch zwei unterschiedliche Stimmen sind. Bittersüß und mit viel Humor erzählt er von Streitigkeiten mit den Liebsten, die in diesem Fall nicht nur Kleinigkeiten sind.