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Dmitrij Kapitelman | Eine Formalie in Kiew 

Hanser Berlin 2021
176 Seiten
20 Euro

ISBN 978-3-446-26937-3

von Tessa Schäfer| Download

Kapitelmans neuer Roman Eine Formalie in Kiew ist eine Reise in die Vergangenheit, um in der Gegenwart anzukommen. Auf dieser Reise, die von Leipzig nach Kiew und zurückführt und dabei auch Halt in Kasachstan macht, lernt der Ich-Erzähler Dima viel über sich, seine Familie, seine Vergangenheit und, ja, auch über Katzen.

Nach 25 Jahren in Deutschland möchte der Protagonist des autofiktionalen Romans nun endlich auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, um u.a. das Wahlrecht ausüben zu können. Doch diese Entscheidung ist keine rein vernunftgeleitete, sondern macht auch deutlich, wie sich Dima von seinen Eltern entfremdet und emanzipiert hat. Während Dima mittlerweile eigentlich keine Verbindung mehr zu seiner ukrainischen Heimat hat, konnten seine Eltern in Deutschland nie wirklich das finden, wonach sie beim Verlassen des ehemaligen Sowjetstaats gesucht hatten. Mit der Zeit wurden sie, und für Dima vor allem seine Mutter, immer wunderlicher, sodass scheinbar unüberwindbare Grenzen innerhalb der Familie entstanden und der Kontakt zuletzt eigentlich gar nicht mehr vorhanden ist. Der Vater stürzt sich mehr und mehr in die Arbeit im eigenen Lebensmittelladen und die Mutter lebt vor allem für ihre 13 Katzen. Eine richtige Veränderung, nach der Dima sich sehnt, gab es lange nicht.

Die Einbürgerung stellt sich dann als unglaublich bürokratisch und langwierig heraus. Den einst gewollten »Kontingentflüchtlingen« wird es auch nach mehr als 25 Jahren Leben in Deutschland alles andere als einfach gemacht, deutsche*r Staatsbürger*in zu werden. Belegt werden muss vor allem die eigene Liquidität, denn »der Staat holt sich keine strukturelle Schwäche in den Volkskörper«. Zusätzlich wird auch eine beglaubigte Geburtsurkunde sowie eine Apostille benötigt, die nur in Kiew selbst zu bekommen sind.
Eine Apostille ist die Bestätigung einer behördlichen Bestätigung durch die nächst höhere Behörde, um deren Beschaffung selbst Dimas sächsische Sachbearbeiterin Frau Kunze ihn
nicht beneidet. Also muss er wohl oder übel in die Ukraine reisen und weil nicht sicher ist, wie lange so etwas in dem noch immer korrupten Land dauert und ob es überhaupt klappt, sind gleich mehrere Wochen Aufenthalt eingeplant. Im Gepäck hat der Protagonist verwaschene Erinnerungen aus seiner Kindheit und jede Menge eingeimpfte Vorurteile – wie etwa, dass die ukrainischen Gullydeckel nicht alle festgeschraubt sind und man
deshalb keinesfalls auf sie treten darf, da die Gefahr besteht, dass man hinunter fällt und nie wieder an die Oberfläche gelangt. Die Reise nach Kiew kann einige Erinnerungen aktualisieren, Vorurteile bereinigen und neue entstehen lassen. Dima sieht sich aber auch
mit einer Rolle konfrontiert, auf die ihn die in Deutschland erlernten Regeln nicht vorbereitet haben, denn Korruption ist ihm zu Beginn gänzlich fremd und er weiß nicht recht, wie genau man sich bei jemandem »entdankt«, wie Bestechung euphemistisch
genannt wird. Auf der Reise trifft Dima aber auch seinen besten Freund aus Kindheitstagen wieder, von dem er sich damals aus Vorsicht nicht verabschieden konnte, besucht seine
alte Wohnung und schließlich die Behörde, von der er die Apostille benötigt. Doch die Reise endet keineswegs wie erhofft und geplant, denn im zweiten Teil des Buches findet sich dann plötzlich fast die ganze Familie in der Ukraine (unfreiwillig) wiedervereinigt vor und muss mit einer Krankheit des Vaters umgehen, der sich aufgrund einer fehlenden deutschen Krankenversicherung in der Ukraine behandeln lassen muss.

Kapitelmans Roman ist kurzweilig, aber einprägsam geschrieben. Die Sprache ist mal humorvoll, mal traurig, aber stets kreativ. Kapitelman scheut sich nicht vor neuen Wortkreationen, die stets genau das beschreiben, was sie aussagen sollen und nebenbei lernt man auch noch ein wenig lautsprachliches Russisch. Was nach der Lektüre definitiv im Gedächtnis bleibt, ist dieser ebenso schöne wie wahre Satz: »Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten«. Der autofiktionale Roman ist nach Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters (2016) das zweite Werk des Schriftstellers und Journalisten. Eine Formalie in Kiew zeigt sowohl die irrsinnigen Vorgänge einer deutschen Einbürgerung als auch das nicht weniger komplexe Beziehungsgeflecht einer Familie auf.

                                                                                                                                                                                                                              Tessa Schäfer


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