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Tijan Sila|Radio Sarajevo  

Hanser Berlin 
176 Seiten
22 Euro
ISBN 978-3-446-27726-7

von Tessa Schäfer

»Ich fühlte, dass zu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten.« (S. 62) – Diesem Grauen, dem Bosnienkrieg der frühen 1990er-Jahre, und besonders der »vergessenen Generation«, gibt Autor Tijan Sila in Radio Sarajevo eine Stimme. Jene Kinder und Jugendliche, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs zwar alt genug waren, um die Ereignisse zu sehen und allmählich zu verstehen, aber zu jung, um selbst lebensverändernde Entscheidungen wie die Wahl zwischen Flucht und (Ver-)Bleiben zu treffen.

Der junge Tijan war zu Beginn des Krieges erst zehn Jahre alt und lebte mit seinen Eltern, einem Bibliothekswissenschaftler und einer promovierenden Germanistin sowie seinem kleinen Bruder in einer winzigen Wohnung in einem der vielen Plattenbauten im bosnischen Sarajevo. Dass der Krieg die Familie, genau wie die vielen anderen Unbeteiligten, völlig unverhofft traf, zeigt bereits die Eingangsszene des Buches, in der Tijan auf dem Schlafzimmerteppich liegt und Radio hört. Was dann folgt, können er und die anderen Zivilisten, die sich in den Keller des Hauses flüchten, erst viel später verarbeiten. Was am Anfang noch Reaktionen wie schreien und in die Hocke gehen hervorruft, schlägt dann aber doch relativ schnell in eine Gewöhnung an Salven und Detonationen um, mit der die Menschen über mehrere Jahre hinwegleben mussten.

In den anfänglichen Kriegswirren gab es zunächst keinen Schulunterricht, weshalb sich Tijan oft (verbotenerweise) mit seinen Freunden Sead und Rafik in der Stadt herumtrieb und versuchte mit Blauhelmsoldaten Pornohefte gegen Nützliches wie Zigaretten, Süßigkeiten oder Batterien zu tauschen.

Neben dem ohnehin schon schweren Kriegsalltag, der von Gefahren, Mangelernährung und Kälte geprägt ist, durchlebt Tijan in dieser Zeit auch den Beginn seiner Pubertät und muss sich gleichzeitig mit Konflikten innerhalb seines Freundeskreises auseinandersetzen. Als nach einem halben Jahr die Schule unter veränderten Bedingungen wieder begann – unterrichtet wurde nicht mehr in Schulgebäuden, sondern in kleinen, wohnortnahen Schutzräumen – wich die anfängliche Freude über die Abwechslung relativ schnell den Realitäten mit einem prügelnden, pensionierten Polizisten als Lehrkraft und geflüchteten, traumatisierten Kindern aus anderen Teilen des Landes.

1994 schließlich flieht die Familie nach Deutschland, nachdem Tijan auf der Straße angeschossen worden war. Doch obwohl den Akademikereltern durch Kontakte und den Sprachkenntnissen der Mutter einige Hürden erspart blieben und Tijan statt die Hauptschule das Gymnasium besuchen konnte, fassen die Eltern in der Fremde keinen Fuß und scheitern letztendlich: »Meine Eltern hatten den Krieg zwar überlebt, und dennoch vernichtete er sie am Ende« (S. 75).

Die Geschehnisse, die Sila in Radio Sarajevo authentisch und kurzweilig schildert, haben sich tatsächlich ereignet. Das Buch präsentiert die Realität, wenn auch komprimiert und ohne romanhafte oder autofiktionale Darstellungen. Es fungiert vielmehr als fesselndes Plädoyer gegen jegliche Form von Krieg, denn »[…] der Krieg hat niemals aufgehört« (S. 173).


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