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Martin Kordić | Jahre mit Martha 

S. Fischer Verlag
288 Seiten
24 Euro
ISBN 978-3-10-397163-7

von Tessa Schäfer| Download

Željko Draženko Kovačević, der Einfachheit halber meist Jimmy genannt, wohnt in den 1990ern zusammen mit seiner Familie zu fünft in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen. Die Eltern sind aus Herzegowina eingewandert und leisten als Bauarbeiter und Reinigungskraft unglaublich viel und doch reicht es hinten und vorne nicht. Der Vater ist die Woche über auf den Baustellen des Landes, macht sich dort den Körper kaputt, baut stolz Bahnhöfe und Flughäfen und wohnt in Containern. Die Mutter putzt nicht nur im Krankenhaus, sondern auch in dem Gemeindezentrum, in dem sie ihre kleine, dank Hausmeistertätigkeiten, mietfreie Wohnung haben, und privat bei einer Professorin. Obwohl man Jimmy den Mangel von außen nicht anmerkt und er zunächst auch nicht über die Verhältnisse, in denen er lebt, verbittert ist, versucht er doch alles, um aus diesen herauszukommen. Er liest alles, was er in die Finger bekommt – von Büchern, über Zeitschriften und Zeitungen, die er aus dem Altpapier fischt – und notiert sich Fremdwörter und deren Bedeutung, um sie in seinen Sprachgebrauch zu integrieren. Er will und muss besser sein als die anderen. Aufs Gymnasium hat er es mit einem Schlenker über die Realschule geschafft, weil die Grundschullehrerin ihm die Empfehlung für eine höhere Bildung zunächst verweigert hatte, da seine guten Noten stets lediglich „Glück“ gewesen seien, und die Eltern auf das Urteil der Lehrkraft vertrauten. Dank einer engagierten Lehrerin auf der Realschule, der gleich auffällt, wie intelligent Jimmy ist, wechselt er dann aber schnell die Schule. Um sich in den Sommerferien etwas Geld hinzuzuverdienen, jobbt der 15-jährige Jimmy bei Martha Gruber, der Hochschulprofessorin, bei der auch seine Mutter putzt, im Garten. Jimmy hat Frau Gruber bei der Geburtstagsfeier seiner Mutter kennengelernt, sie dann noch einmal zusammen mit ihrer Tochter in der Stadt getroffen und irgendwie ist da eine unerklärliche Verbindung zwischen den beiden. Während seiner Arbeit im Garten wird sich Jimmy relativ schnell darüber klar, dass die Frage nach einem Kuss kein „ob“, sondern ein „wann“ ist. Doch für lange Zeit wird dieser Kuss zwischen dem 15-jährigen Jimmy und der knapp 20 Jahre älteren Martha, der am frühen Morgen an einem Badesee zwischen schwimmenden Rentner*innen geschieht, der einzige und letzte bleiben. Sie bleiben sich dennoch viele Jahre gegenseitig im Gedächtnis. Als Jimmy nach dem Abitur dann nach München zum Studieren geht und er trotz Stipendium eine Bürgschaft für eine Wohnung benötigt, die ihm seine Eltern nicht geben können, ist es Martha, der Jimmy schreibt und die ihm ohne zu zögern die Bürgschaft ausstellt. Es entwickelt sich eine spannende und aufgeladene Beziehung zwischen den beiden, in denen viel experimentiert und ausprobiert wird.
Das Motiv des stets kleingehaltenen Jungen mit Migrationshintergrund durchzieht das gesamte Buch. Angefangen von der absurden Realschulempfehlung über die genauso abstruse Berufsempfehlung in der 10. Klasse, Gärtner zu werden, statt das Abitur zu machen, bis hin an die Universität, wo dem Arbeiterkind verständlicherweise institutionelles Hintergrundwissen fehlt. Aber auch innerhalb der Familie ist Jimmys Werdegang nicht überall gern gesehen. Die Eltern verstehen nicht, was ihr Sohn dort an der Universität macht, gönnen es ihm aber von Herzen. Der große Bruder versucht ihn allerdings zu einer Ausbildung zu überreden und möchte, dass Jimmy bei den Eltern bleibt, denn ein Studium sei nichts für „Kinder wie uns“ (S. 81). Trotz aller Widrigkeiten schafft Jimmy Schule und Studium, doch dass ein akademischer Abschluss nicht die Antwort auf alle Lebensfragen ist, zeigt sich schnell. 
An einigen Stellen des Werks fühlt man sich unweigerlich an Saša Stanišićs buchpreisprämierten Roman „Herkunft“ erinnert und doch ist „Jahre mit Martha“ ganz anders. Etwas weniger Humor und wahrscheinlich eine ganze Spur weniger autobiografisch, doch die Abrechnung mit der Klassengesellschaft ist auch hier ganz klar formuliert. In geschickt eingebundenen Randbemerkungen werden die unterschiedlichen Lebensumstände Jimmys und der bildungsbürgerlichen und gut situierten Martha deutlich.
„Jahre mit Martha“ ist ein vielschichtiger Roman, der sowohl Coming of Age als auch Liebes- und Lebensgeschichte ist. Zwischen dem manchmal lockeren Stil beinhaltet das Buch auch eine eindeutige und wichtige Gesellschaftskritik.


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