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Carsten Gansel|Ich bin so gierig nach Leben. Brigitte Reimann. Die Biographie.  

Aufbau Verlag
704 Seiten
30 Euro
ISBN: 978-3-351-03964-6

von Lothar Schneider 

Am 20. Februar 1973 starb Brigitte Reimann mit 49 Jahren – 2023 jährte sich ihr Todesdatum also zum 50. Mal. Ein gutes Datum für die erste umfassende Biographie der berühmten und kultisch verehrten Autorin, zumal im letzten Jahr ihre Tagebücher und in diesem Jahr ihr früher Roman Geschwister erstmals englischsprachig erschienen und positiv rezipiert worden sind. Die Aufmerksamkeit für Brigitte Reimann steigt also auch international. Aber Carsten Gansels Buch Ich bin so gierig nach Leben. Brigitte Reimann. Die Biographie braucht keine Jubiläen: Auf etwas über 600 Seiten Text und 100 Seiten Anhang erzählt Gansel die Geschichte eines komplexen, komplizierten, faszinierenden und zum Ende hin tragischen Lebens spannend und detailreich, kurz: lesbar, ohne in akademische Bemühtheit zu verfallen.

Dabei ist die private Biographie nur die innerste Figur einer Matroschka, die umgeben ist von sozialen, künstlerischen und politischen Hüllen, durch die die Biographie Reimanns zur exemplarischen Erzählung eines Schicksals in den frühen Jahren der DDR zwischen Hoffnung und Enttäuschung, Emanzipation und Restriktion, künstlerischer wie persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher wie ästhetischer Normierung wird.

Brigitte Reimann ist für viele Zeitgenoss*innen und bis heute für Leser*innen eine faszinierende Person: eine Frau, die radikal auf ihrem Recht auf Selbstbestimmung bestand; die sich trotzdem - oder gerade deswegen - immer wieder in scheiternde Beziehungen verstrickte - oder Beziehungen immer wieder scheitern ließ; die seit ihrer Jugend zu einer literarischen Laufbahn entschlossen war – und zeit ihres Lebens zwischen Perioden euphorischer Produktion und Phasen depressiver Sterilität pendelte; die bereit war, sich in das Literatursystem des sozialistischen Staates einzufügen – und doch zunehmend auf Widerstand stieß; die prämiert und gefeiert war und doch wusste, dass ihr letzter, unvollendeter Roman Franziska Linkerhand kaum ohne Auflagen hätte publiziert werden können.

Reimann steht damit auch für die Hoffnungen und Enttäuschungen der ersten in dem sozialistischen deutschen Staat aufgewachsenen Generation, einer Generation, die zunächst ausdrücklich eingeladen war, am Aufbau einer neuen, besseren Gesellschaft mitzuarbeiten, die sich aber - mit Ausnahme der kurzen ‚Tauwetterperiode‘ - zunehmend eingeengt, in ihren Bedürfnissen ignoriert und reglementiert fühlte. Darin unterscheiden sich die Generationenerfahrungen in beiden deutschen Staaten wenig. (Wenngleich die bundesrepublikanische Jugend weniger eingeladen als materiell sediert war und gleichzeitig wegen ihres materialistischen Amerikanismus‘ verdächtigt wurde.)

Worin beide Staaten aber erheblich differieren, ist das Literatursystem: Auf bundesrepublikanischer Seite entstand eine marktwirtschaftlich geprägte Literaturlandschaft, die lediglich in der unmittelbaren Nachkriegszeit politisch reglementiert worden war, dann aber im sozialen Zusammenspiel von Literaten, Kritikern und Verlagen reguliert wurde. (In den Tagungsbänden der Hans-Werner-Richter-Tagungen, die von Carsten Gansel mit wechselnden Co-Herausgebern ediert wurden, ist diese Entwicklung dokumentiert.) Auf Seiten der DDR hingegen entwickelte sich eine politisch kontrollierte Literaturlandschaft, die ihre Autor*innen mit Zensur bedrohte und tatsächlich zensierte, sie aber auch großzügig subventionierte, wobei es kein Ausschlusskriterium sein musste, wenn Projekte scheiterten oder eingestellt wurden. Ein System, in dem vor allem Verlagen eine konstitutiv andere Funktion zukommen konnte, weil sie kommunikative Techniken entwickelten, um ihre Autor*innen vor Eingriffen und Verboten zu schützen.

Zu lesen, wie dieses System funktioniert, ist interessant – spannender noch ist es zu sehen, wie sich Reimann in dieser Sphäre bewegt und welchen Einfluss diese auf ihr Werk hat. Dabei korrigiert die Biographie das verbreitete Missverständnis, bei der DDR-Literatur handele es sich um eine Art Realismus des 19. Jahrhunderts, nur dass die bürgerlichen durch sozialistische Ideen und Inhalte ausgetauscht worden seien – eine Literatur, die auf jeden Fall formal weniger ambitioniert, aber besser lesbar sei als die der bundesrepublikanischen Nachkriegsmoderne. Letzteres stimmt häufig, ersteres nie: Die DDR-Literatur pflegte, wie Volker Braun formulierte, eine Art ‚konspirativen Realismus‘, bediente sich eines ganzen Arsenals von Formen und Verweisen, die zu entdecken und wahrzunehmen die Oberflächenbedeutung der Texte - um eine Formulierung von Karl Marx zu gebrauchen: ‚zum Tanzen bringt.‘ Wie dies zu verstehen ist, demonstriert Gansel mühelos am Beispiel Reimannscher Texte.

Dabei gehört es zu den großen Vorzügen der Biographie, dass Gansel nicht beschönigt, dass er auch zeigt, wo Reimann fehlbar war, dass er seine Autorin dabei aber nie verrät. Das macht die Biographie nicht nur zu einem interessanten Gegenstand und einem stetig steigenden Lesevergnügen, sondern auch zu einem Modell für kommende Unternehmen.

   


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