Diogenes
272 Seiten
25 Euro
ISBN 978-3-257-07318-8
von Lothar Schneider
Zum 100jährigen Jubiläum von Thomas Manns Zauberberg einen ‚Nachfolgeroman‘ zu veröffentlichen, garantiert skeptische Aufmerksamkeit, lässt es doch einen literarischen Coup vermuten, zugleich aber auch Überforderung und Scheitern befürchten. Norman Ohler hat dies geschickt vermieden, weil er mit dem Meisterwerk nicht konkurriert, sondern ihm das eigene Buch quasi zur Seite stellt: Mann beschreibt die entkontextualisierte Davoser Sanatoriumsgesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg, zu der die Außenwelt kaum Zugang findet, während die innere Wirklichkeit der Figuren, ihre Tuberkulose, als präsente, aber meist verdrängte Todesdrohung in Hintergrund steht. Ohler rekontextualisiert diesen fiktionalen Kosmos historisch und führt ihn in die Gegenwart: Unterhaltsam zeichnet er die Entwicklung von der Entdeckung der heilenden Wirkung der Bergwelt, über das Aufkommen der Kuren, den Boom des Ortes als Luxussanatorium, die Entstehung des Skitourismus, der das Gebiet nach der Entdeckung der Antibiotika vor dem Niedergang rettet, bis schließlich zur Wandlung zum luxuriösen Veranstaltungsort, z. B. für das World Economic Forums, nach, bis in eine Gegenwart, die von Klimaerwärmung und Schneeschmelze geprägt ist.
Eingebettet in diesen Verlauf sind zwei bemerkenswerte und bemerkenswert gut geschriebene Geschichten: Zum einen die – man muss es so nennen – große und bedingungslose Liebe zwischen dem expressionistischen Dichter Klabund, der in Davos sterben wird, und der Schauspielerin Carola Neher, Brechts Seeräuber Jenny. (Sie wird später im Gulag zugrunde gehen.) Zum anderen den Aufstieg Wilhelm Gustloffs, des Protagonisten und Organisators der nationalsozialistischen Bewegung in der Schweiz, bis zu seiner Ermordung durch den jüdischen Arzt David Frankfurter; ein Attentat, das bemerkenswerter Weise in der Schweiz ein politisches Umdenken und die Distanzierung vom Nationalsozialismus zur Folge hatte.
Gerahmt wird dies alles von den Erlebnissen und Reflexionen eines alleinerziehenden Vaters und Schriftstellers, der seine Tochter zu einem Skiurlaub in den Luxuskurort begleitet und die Zeit mit nutzbringenden und steuerlich abzugsfähigen Recherchen füllen will, anstatt sich der notorischen Langeweile klassischer Zauberberg-Figuren hinzugeben.
Ohler, der neben drei rein fiktionalen Romanen auch zwei Sachbücher geschrieben hat - und damit internationale Erfolge verbuchte -, hat in der Bearbeitung historischer Stoffe und Vorlagen eine Technik entwickelt, die akribische Recherche mit freier literarischer Narration verbindet; eine Erzählweise, die ebenso informativ wie flüssig zu lesen ist und dabei mehr Vergnügen bietet als bloßes Amüsement, weil sie nicht aus der Wirklichkeit weg-, sondern zu ihr hinführt und die den Leser unterhält wie zum Nachdenken bringt.