Rowohlt Hundert Augen
304 Seiten
22 Euro
ISBN 978-3-498-00340-1
von Lothar Schneider
Es gibt (mindestens) vier gute Gründe, das neue Buch von Stefanie Sargnagel zu lesen: 1. Für ‚Boomer‘, also Angehörige jener älteren Generation, zu der auch ich mich zählen darf, eröffnet es einen Blick auf das Selbstverständnis und die Denkweise jener Alterskohorten, die sich selbst als GenZ, Millenials und/oder, mit zusätzlich sozialer, ethnischer und politischer Verortung, als Snowflakes bezeichnet. 2. Für Angehörige dieser Gruppen, der Sargnagel vermutlich als Bloggerin, Performerin, Verfasserin von Flash-Texten und als Karikaturistin sowie als Aktivistin vertraut ist, zeigt es, dass auch die eher traditionelle Form längerer Beschreibungs- und Reflexionsprosa ein geeignetes, ebenso unterhaltsames wie informatives Medium literarischer Kommunikation darstellt. 3. Erfahren wir von Sargnagel eine Menge über einen Teil von Amerika, der in Darstellungen oft vernachlässigt wurde, weil seine ländlich geprägten Weiten aus der Perspektive der Bewohner beider Küsten – abgesehen von einigen spektakulären Naturdenkmälern – lediglich Entfernung bedeutete, die es zu überbrücken galt: ‚Flyover Country‘. Für konservative Amerikaner, wie es die Bewohner jener Region zumeist sind, sind diese Staaten jedoch das ‚American Heartland‘ – und welche Relevanz ihnen und ihm zukommt, ist seit dem Wahlsieg Donald Trumps 2017 und seiner gegenwärtigen Kandidatur deutlich geworden. 4. Vor allem aber: Iowa ist ein gutes Buch.
2022 lehrte Sargnagel für zwei Monaten creative writing am Grinnell College in Grinnell, einer 9000 Einwohnerstadt in Iowa. Das College ist liberal und gehoben; die Gegend ist ländlich; die Stadt charakterisiert sich selbst als ‚tucked away in the prarie‘, was man mit ‚versteckt in der Prärie‘ übersetzen kann. Was gibt es da zu sehen? Vieles, was man sonst übersieht, was einem entgehen würde, weil der Blick von vermeintlich Wichtigerem gefangen wäre, als wäre – siehe wiederum die Trump-Wahl – dieses ‚Normale’ nicht bisweilen das Entscheidende.
Aber der Text ist keine Reportage im üblichen Sinn. Sargnagel, die in den ersten beiden Wochen ihres Aufenthalts in Grinnel von der Sängerin, Lyrikerin und Kabarettistin Christiane Rösinger begleitet wurde, beschreibt nicht nur eine Kleinstadtwelt, sie berichtet über ihr Erleben dieser Welt, schildert, wie sie – und zu Beginn auch Rösinger – auf die Umstände reagieren, wie sie damit zurechtkommen und wo es ihnen oft unvermutet schwerfällt (z.B. der Kaffee!). Und weil Stefanie Sargnagel die Autorin ist, fehlt es nicht an satirischen/realistischen/komischen Querschlägen ins eigene europäische Milieu. Letztlich auch eine Milieustudie? Ja, wie alle guten Prosatexte – aber die Studie zweier simultaner Milieus.