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Hengameh Yaghoobifarah | Ministerium der Träume 

Blumenbar
384 Seiten
22 Euro

ISBN 978-3-351-05087-0

von Tabea Färber-Schwert| Download

In Ministerum der Träume kombiniert Hengameh Yaghoobifarah in beeindruckend deutlicher Sprache die Geschichte einer Frau auf der Suche nach dem wahren Grund für den tödlichen Unfall ihrer Schwester mit einer kritischen Auseinandersetzung über die Erfahrungen von Immigranten in einem Deutschland der 80er Jahre bis hin zur Gegenwart.

Für Nasrin bricht die Welt zusammen, als die Polizei vor ihrer Tür steht und ihr mitteilt, dass ihre Schwester Nushin bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Der Tod ihrer Schwester bringt große Veränderungen in Nasrins Leben, die sie scheinbar an ihre Grenzen kommen lassen. Als neuer Vormund für ihre Nichte Parvin muss Nasrin ihr Leben als Türsteherin in einem queeren Club in Berlin mit der neuen Verantwortung über Nushins pubertierende Tochter unter einen Hut bringen. Hierbei wird insbesondere die Beziehung zu ihrer queeren Wahlfamilie auf die Probe gestellt. Im Hintergrund schwingt für Nasrin jedoch immer die Frage mit, ob Nushins Tod tatsächlich nur ein Unfall war oder ob sich dahinter nicht doch der geplante Selbstmord ihrer Schwester versteckte.

Mit dieser Frage beschäftigt sich der Roman unter anderem in insgesamt vier Abschnitten. Umrahmt werden die Abschnitte von kurzen Ausschnitten von Songtexten, die den jeweiligen Abschnitt und die Bedeutung für die Geschichte um Nasrin sinnbildlich umschreibt. Auch in den Kapiteln sind immer wieder kurze Zitate aus Liedern zu finden, die Nasrins Gefühlszustand verdeutlichen. Im Roman verflechtet Yaghoobifarah zwei verschiedene Erzählstränge: Nasrins Vergangenheit und ihre Gegenwart. In chronologisch erzählten Rückblenden wird Nasrins Kindheit und Jugend den Leser*innen nähergebracht.

Als Immigrantinnen aus dem Iran, deren Ehemann bzw. Vater vom Regime ermordet wurde, gestaltet sich das Leben der drei Bezahdi Frauen – Nasrin, Nushin und der Mutter – im Lübeck der frühen 80er Jahre nicht leicht. Die Spannung zwischen Immigrant*innen und Deutschen scheint sich immer stärker zuzuspitzen, insbesondere vor dem Hintergrund der Zunahme an rassistischen Angriffen in Deutschland in den 1990er Jahren. So berichtet der Roman, welche Folgen Anschläge, wie zum Beispiel die rechtsextremen Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991 oder aber auch die steigende nationalsozialistische Stimmung zu Zeiten der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland, auf Nasrin, ihre Freund*innen und Familie hatten. In der Gegenwart wird Nasrin ebenfalls immer wieder mit Alltagsrassismus konfrontiert und muss sich unter anderem auf Parvins Elternabend in der Schule gegen eine „Annika-Clique“ behaupten: weiße Frauen, die sich über Nasrins und Parvins Migrationshintergrund lustig machen und laut Nasrin dennoch immer gewinnen werden, denn „[w]eiße Frauen brauchen keine Gewehre, um dich als Geisel zu nehmen, sie haben ihre Tränen“ (S. 134). Neben der Herausforderung, das Trauma aus der Vergangenheit mit neu Hinzugekommenem aus der Gegenwart zu verarbeiten, versucht Nasrin eine Verbindung zu ihrer Nichte herzustellen, die sich nach dem Tod ihrer Mutter immer mehr zurückzieht. Der Stimmungswechsel zwischen den Kapiteln aus Nasrins Vergangenheit und ihrer Gegenwart ist beim Lesen deutlich spürbar. Während vor allem die Kapitel um Nasrins Vergangenheit sozialkritisch und ungeschönt Deutschland aus der Sicht einer iranischen Immigrantin beschreiben, liest sich Nasrins Gegenwart fast wie ein Kriminalroman, auf der Suche nach der Ursache von Nushins Autounfall. Im Verlauf des Romans werden diese beiden Erzählstränge immer stärker miteinander verwoben und schlussendlich muss sich Nasrin mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, um eine Antwort für den Tod ihrer Schwester zu finden.

Dass Hengameh Yaghoobifarah Themen wie Rassismus, Gewalt gegen Immigranten und Feminismus aufgreift, dürfte nicht verwunderlich sein, wenn man weitere Texte Yaghoobifarahs kennt. Seit 2016 veröffentlicht Yaghoobifarah die Kolumne »Habibitus« bei der taz und befasst sich vor allem mit Debatten rund um Queerness, Antirassismus, Feminismus und Popkultur. Zusätzlich ist Yaghoobifarah in der Redaktion des »Missy Magazine« tätig und sorgte mit manchen Veröffentlichungen für große Diskussionen in verschiedenen politischen Lagern. Gemeinsam mit Fatma Aydemir publizierte Yaghoobifarah 2019 den Essayband Eure Heimat ist unser Albtraum, in dem Beiträge von 14 deutschsprachigen Autor*innen über eine rassistische und antisemitische Gesellschaft gesammelt wurden. Ministerium der Träume ist Yaghoobifarahs Debütroman.

Etwas abrupt und unerwartet endet der Roman, nachdem die Geschichte rund um Nasrin und ihre (Wahl-)Familie(n) vor allem ab der zweiten Hälfte deutlich an Fahrt und Spannung aufnimmt. Dennoch gelingt es Hengameh Yaghoobifarah mit Ministerium der Träume sowohl zu unterhalten als auch zu kritisieren. Es ist ist ein gelungenes Buch, in dem man mit den Protagonistinnen gemeinam fühlt, weint und schreien möchte. Es rüttelt wach mit seinen manchmal erschreckenden, aber ehrlichen und ungeschönten Einblicken, die einem das Privileg Weißer aufzeigen und einen tiefen Eindruck hinterlassen, den man noch lange mit sich trägt.

Tabea Färber-Schwert

 

 

 


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